Sonnenaufgang um Mitternacht

Ein privater Atlas für das Ruhrgebiet

Brückenzug Hansa, Dortmund Huckarde - (c) Günther Wertz

Nichts gegen New York, London und Hamburg, aber ich meide Großstädte. Ich mag sie nicht. In Cedar Rapids, Lymington Spa oder Feldafing bin ich glücklich. Europa gefällt mir. Hier kann ich stundenlang im Wald oder an einem Fluss spazieren, ohne dass mir jemand begegnet oder sich mir eine Tankstelle oder eine Plakatwand in den Weg stellt. Bitte verstehen Sie mich nicht falsch: Meine Liebe zum ländlichen Europa hat nichts mit pastoraler Nostalgie oder literarischer Misanthropie zu tun. Sie entspringt schlicht dem Wunsch, mich von der globalen Metropole, in der ich geboren wurde, lebe und arbeite, zu erholen: Bombay hat mit 22 Millionen mehr Einwohner als Schweden, Norwegen und Finnland zusammen, verfügt über ein gigantisches Straßen- und Brückennetz und bricht unter dem Verkehrsinfarkt zusammen. Bombay katapultiert die Menschen in eine endlose Pendelbewegung, in der sich die Stunden des Tages zur Schlaufe knüpfen und zur Schlinge verknoten.

Das ländliche Europa ist für mich überdies weit mehr als ländliche Idylle. Auch die Industrie gehört dazu: Städte, die um Fabriken, Hochöfen und Schmelzereien herum entstanden sind, angesiedelt in Tälern, zwischen zerklüfteten Felsen und langsam fließenden Flüssen, die man nutzbar gemacht hat, damit sie schwere Lasten in Richtung Mündung transportieren, wo Strom und Meer zusammentreffen. Der metrische Rap der Industrietäler fällt mir ein, die ersten Lektionen bei meinem Vater, dem Ingenieur und Manager, der an der Universität Deutsch gelernt hatte: Ruhrtal, Wuppertal, Lennetal, Lippetal.

Diese Namen versetzten mich ins Herz des Ruhrgebiets. Dortmund, Bochum und Essen waren die ersten Ortsnamen, die ich in meiner Kindheit in den siebziger Jahren in Goa und Bombay hörte. Mein Vater arbeitete für Tata, eines der größten indischen Unternehmen, Hersteller von Autos, Baumaschinen und Stahl. Zu meinen frühesten Erinnerungen gehören Fotos von riesigen Fabriken und Produktionsanlagen im Ruhrgebiet, wohin der Tatakonzern enge Beziehungen pflegte. Als ich 2003 zum ersten Mal nach Dortmund kam, um einen Urlaub bei meinem Freund, dem Dichter und Übersetzer Jürgen Brôcan, zu verbringen, erschienen mir die Architektur und die Topografie der Stadt ungeheuer vertraut. Es war, als hätte ich einen Riss im kosmischen Gewebe von Zeit und Raum entdeckt, als sei ich zurückgekehrt an einen Ort, den ich mir als Kind so intensiv vorgestellt hatte, der irgendwie zu mir gehörte.

Ich habe viele deutsche Freunde und Bekannte, und überall begegnen mir die Spuren des Ruhrgebiets. Der postmediale Künstler in Berlin, der Fotograf und Filmemacher in Sapporo, der Kurator, der nach Münster zog und nun ebenfalls in Berlin lebt, der Schriftsteller, der sich in der Nähe von München niedergelassen hat – sie alle wurden, wie ich überrascht mit fremder Vertrautheit und diesem ungewöhnlich intimen Gefühl der Zugehörigkeit feststellte, in Unna, Hamm, Gelsenkirchen oder Duisburg geboren und wuchsen im Ruhrgebiet auf. Doch es ist nicht die grüne, postindustrielle Landschaft, die ich heute kenne und liebe, die in ihrer Erinnerung lebt. Viele von ihnen entflohen der Welt ihrer Kindheit, die der Phantasmagorie eines Hieronymus Bosch glich: Sie erinnern, wie der Himmel um Mitternacht Feuer fing, denken zurück an ihre Großmütter, die ihnen erzählten, das Leuchten des geschmolzenen Eisens würde für immer ihr Sonnenaufgang sein. In ihrem Gedächtnis lebt der Hopfengeruch aus den Brauereien fort, der durch die Luft zog. Und noch immer hören sie das Rumpeln des Zuges, der das Roheisen gemächlich vom einen Ende des riesigen Industriereviers zum anderen transportierte.

Dortmunder U, 2006 - (c) Günther Wertz
Dortmunder U, Juni 2006

Dortmund

Kaum ist der ICE in den Hauptbahnhof eingefahren, drängt sich die industrielle Vergangenheit ins Bild. Der verlassene Turm der Dortmunder Union-Brauerei, gekrönt von dem riesigen „U“, das längst nicht mehr im Neonglanz erstrahlt, ragt über die Stadt. Der massive Komplex wurde zum zweiten Babel; jahrelanger Verfall und Verwitterung haben auf dem dunkelroten Ziegelbau tiefe Spuren hinterlassen. Dieses Jahr soll der Koloss restauriert und als Herzstück eines Wunderparks unserer elektronischen Zeit zu neuem Leben erwachen. Dortmund liegt im Zentrum des Ruhrgebiets. Über ein Jahrhundert lang war die Stadt das Kraftwerk Deutschlands. Heute macht man sich dynamisch auf in eine Zukunft, die von virtueller Technologie, Forschung und internationalem Kapital bestimmt wird. Doch die Stahlwerke, Zechen und Eisenhütten, die den Ruhm der alten Zeit begründeten, bleiben unvergessen.

Gleichgültig, wohin Sie in Dortmund fahren: Sie sind kilometerweit unterwegs und erreichen dennoch keine Stadtgrenze. Dieser Zwilling Bombays erstreckt sich übergangslos über sechs oder sieben Nachbarstädte. Vorbei geht es an stillgelegten Gruben, von Birkenhainen überwucherten Bahndämmen, an Fabrikgeländen, auf denen Linden und Pappeln blühen, und Kühltürmen, die sich düster vom trüben Nordhimmel abheben. Da die Obdachlosen hier diskret unter Brücken schlafen, sind diese Monumente des Industriezeitalters die Schreine, die die Zukunft an die Vergangenheit erinnern, aus der sie erwachsen ist.

Im Museum der alten Kokerei Hansa beginne ich zu ahnen, was Kohleverarbeitung einmal war. Zwar hört man dort, wo einst Maschinen brummten, quietschten und dröhnten, nur noch den Wind und Kinderstimmen, doch der Geruch von Bitumen und Teer hängt noch heute in der Luft – selbst an Regentagen. Er hat sich in den Gemäuern eingenistet, die der Wald Schritt für Schritt zurückerobert. Da, wo man keine Arbeiter mehr in ihren Blaumännern sieht, klopfen belaubte Stämme an stumpf gewordene Fensterscheiben. In diesem grünen Atlantis entdecken wir eine Schalttafel mit Druckventilen und Zifferblättern, deren Zeiger eingefroren sind. Von federnden Bäumen festgehalten steht ein Kohlewaggon auf den Gleisen. Wir klettern in eine Fahrerkabine, deren Hebel auf ewig zwischen „Nord“ und „Süd“ fixiert sind. Eine pergamentdicke Staubschicht trübt das Neonlicht in der Kanzel, Spinnweben verbinden Mikrofon und Armaturenbrett, die Handbremse ist arthritisch, ein Blatt liegt auf dem Fahrersitz, wie eine Hand mit einer Handvoll Regenwasser. Wir schweigen. Und fragen uns, warum wir immer das Erhabene aus den Ruinen herausmeißeln.

Dortmunds größtes Stahlwerk ist, Schraube für Schraube, in eine chinesische Sweatshop-Provinz verschifft worden. Am alten Standort entsteht ein Park mit einem künstlichen See. Phönix wird er heißen, benannt nach dem bedeutenden Symbol der Auferstehung. Wir erreichen einen alten Damm, zwei massive Steinwände auf beiden Seiten der kanalisierten Emscher, die nie unter Denkmalschutz gestellt wurden. An dieser Stelle hält der Fluss den Atem an. Eine Schwalbe zieht vorbei. Kein Denkmalschutz. Umso besser. So können wir im Regen den Deich erklimmen und zwischen Kies und Blumen nach Resten von Schlacke, Schwellen und Zuglaschen suchen. Hier und da hat sich der Wald die Landschaft wieder einverleibt, durch die sich einst die Schienen zogen; an einer anderen Stelle hat sich eine Wiese selbst gesät. 

Kokerei Hansa, Dortmund; Koksofenbatterien- (c) Günther Wertz
Kokerei Hansa, Dortmund - Koksofenbatterien

Du hebst die Gewindemutter eines zerbrochenen Hebels auf und hältst sie gegen das dämmrige Licht. Abgeblätterter Rost fällt von einer Kulisse, die mit Fertigbauteilen und anderen Utensilien gesprenkelt ist; ein Ikea-Lager, auf dem Gelände verstreut Zelte und Wohnwagen, in denen Arbeiter aus der Ukraine wohnen. Kräftige Männer und verlorene Frauen, die aus der weit entfernten Steppe ins Flachland gezogen sind.

Hollywood setzte dem gescheiterten Hitler-Attentäter Claus Schenk Graf von Stauffenberg ein filmisches Denkmal. Doch wer erinnert an die heldenhaften Arbeiter an der Ruhr, die in den dreißiger und vierziger Jahren Widerstand gegen das Naziregime leisteten? Das Tourismusbüro der Stadt Dortmund befindet sich in einem wuchtigen Bauwerk. Während der Nazizeit war es das größte Gefängnis der Region. Dabei hat die Bevölkerungsstruktur an der Ruhr die Idee einer einzigartigen Rasse immer schon als Unsinn entlarvt. Auf den Friedhöfen der Region ruhen Bauermann und Schindler neben Czerwinka und Koslowski. Moosüberwachsene Namen legen für die ethnische Mischung der Migranten, die das Ruhrgebiet aufbauten, Zeugnis ab: Rheinländer und Polen, Slowaken und Balten, später Griechen, Italiener, Portugiesen und Koreaner.

Meine Gedanken reisen zurück an ihren Ausgangspunkt: Bombays Shopping-Malls, Restaurants, Bowling-Center und Mega-Souks wurden auf einem Fundament der Amnesie errichtet. Es gibt kein Museum für das industrielle Vermächtnis der Stadt. Niemand feiert die Geschichte der Textilfabriken, der Docks oder die kommunistische Bewegung und die damit verbundenen Erzählungen über Opium, Baumwolle, Arbeit, Migration und Widerstand. Der Entwurf des visionären Architekten Charles Correa für die Sanierung der Fabrikgelände war der Ruf nach einer solchen Initiative. Da seine übrigen Vorschläge jedoch ignoriert wurden, gibt es keinen Grund, warum dieses bahnbrechende Projekt für kurzsichtige Politiker, die entschlossen sind, die Zukunft Bombays zu entstellen, irgendeinen Reiz haben sollte.

Kokerei Hansa, Dortmund; Löschturm - (c) Günther Wertz
Kokerei Hansa, Dortmund - Löschturm

Bochum, Hauptfriedhof

Hinter einem Palisadenzaun an der Immanuel-Kant-Straße, durch einen Vorhang von Trauerweiden, sehe ich schon den hohen, den viel zu hohen Gebäudekomplex. Wir passieren das schwarze Tor, das von zweifelhaften Helden gehütet wird, die Schwerter, Schilde und ein kaum maskiertes Hakenkreuztragen. Wir laufen durch den Eingangsbereich, der einem Lichtschacht ähnelt, doch es ist Dunkelheit, die aus großer Höhe über uns hereinbricht. Einen kurzen Moment lang sind wir wie blinde Fische auf dem tiefsten Grund des Ozeans, bevor uns das perlmuttfarbene Licht erreicht und befreit.

Wir betreten die düstere Halle der Geister, die von den hohen, dunklen Fenstern, schmale Schlitze in den Wänden, kaum erhellt wird. Die Seele machte auf ihrem langen Weg nach Walhalla hier Rast und entdeckte das Theater. Fackeln brennen an den Mauern, spiegeln sich in den Metallsternen hinter dem Altar. Die Totenbahre wurde von unten hochgefahren. Schnallt euch an, ihr Sterblichen! Die Walküren sind hier! Die Reise in das Leben nach dem Tod beginnt. Im Rücken der Trauernden stand ein Mann, ein Beobachter und Zuhörer, in einer versteckten Zelle, eine Membran, die ihre bebende Unruhe auf die Männer auf ihren hohen Stühlen übertrug. Diese überwachten das Land und lenkten den Übergang der Seelen in die Arbeits- und Todeslager.

Menschen, eine Familie, nähern sich vom Friedhof kommend. Sie tragen Schwarz, doch sie schweigen nicht mehr dem Anlass entsprechend. Sie schauen auf ihre Uhren und Handys, rufen ein Taxi und kehren zum Rest des Arbeitstages zurück. Niemand sieht nach oben, zu den Geistern der Nazizeit. Azaleen und Geranien stapeln sich. Der Tod geht weiter.

Sonnenstraße, Dortmund

„Hinter den Linden“, sage ich zu mir, in dieser verrückten Zweisprachigkeit, die mir so vertraut ist, wenn ich in Deutschland bin. Ich übertrage das Bild der eleganten Diplomaten aus dem verschwundenen Berlin der Weimarer Republik in diese ruhige Gegend von Dortmund. Aber ja doch: Lasst den Linden Zeit, und eine Festung kann sich hinter ihnen verstecken.

Schattiges Moos wächst auf den feuchtgelben Mauern des Sonnenbunkers, der wie das Schloss der schlafenden Bestie mitten in diesem hübschen, bürgerlichen Wohnquartier steht. Eine alte Dame in blauem Kleid führt ihren Hund aus. Jungen spielen Fußball auf den Gehwegplatten, zwischen denen Kiefern wachsen und den Stacheldraht zieren, der den Bunker vom normalen Leben trennt. Geparkte Autos. In aller Ruhe. Nehmen sie von diesem Relikt in ihrer Mitte Kenntnis? 

Wenn die alte Dame ihren Wecker hört, aufwacht und den Tüllvorhang zur Seite schiebt, ist ihr Fenster das einzige Auge, das sich in der dezenten georgianischen Fassade ihres Wohnblocks öffnet. Blickt sie hinüber, ins Zyklopenauge des Bunkers, das schäbig, ohne Verschlag, stets offen, im Turm zu sehen ist? Ein Auge, das geschworen hat, nach der Kapitulation nie wieder etwas zu sehen, nachdem der Wind eine gewisse, unbenannte Asche über die zerbombten und zerborstenen Straßen um die Reichskanzlei geweht hat? Bin ich der Einzige, der das leise Knurren der Jagdhunde hört?

Wie konnte ich mir die Verwerfungen dieses Landes so sehr, so seltsam und so ganz und gar zu eigen machen?
 

Text von Ranjit Hoskote, erstmals erschienen in Theater der Zeit HEFT 02/2010.

Für Jürgen Brôcan und Frank Wierke.

Übersetzung aus dem Englischen von Lilian-Astrid Geese.

Fotos: Günther Wertz