Plattgemacht, Hochgezogen, Verscherbelt

Fotos von Janek Stroisch

 

Für wen wird hier eigentlich gebaut? Im Zentrum von Istanbul lassen Regierung und Stadtverwaltung ganze Viertel umgraben. Sie vertreiben Roma und Kurden, um Wohnraum für ihre Wähler zu schaffen. Doch die wollen dort überhaupt nicht leben. Ein Rundgang durch drei zerplante Stadtteile.

Tarlabasi Instanbul (c) Janek Stroisch

Tarlabasi: Historisch, aber nicht alt

Die Mittelklasse in der Türkei sehnt sich nach Wohnen in historischem Ambiente, doch alt soll es möglichst nicht sein – es reicht der Schein.

Die Fassaden stehen noch am Tarlabasi Bulvari, Gerüste müssen sie stützen, denn die Häuser sind nur noch wenige Backsteine tief. Durch ein Loch im Bauzaun an der Straße, die sich vom Goldenen Horn hinauf zum Taksim-Platz zieht, blickt man auf eine riesige Baustelle. Außer den paar Fassaden ragen nur noch zwei Kirchen aus der Baugrube – der Denkmalschutz verpflichtet.

(c) Janek Stroisch

Das Gelände, auf dem das Wohnprojekt Tarlabasi 360 entstehen soll, war einst eng bebaut mit 278 typischen Istanbuler Reihenhäusern, drei oder vier Stockwerke hoch. Heute sind fast alle abgerissen, um Platz für eine riesige Tiefgarage zu machen. Darüber plant die Stadt auf 20.000 Quadratmetern ein neues Viertel für die türkische Mittelklasse.

»Sie wollen das Historische, aber sie wollen nichts Altes«, meint der Architektur-Professor Ugur Tanyeli dazu. »In der Türkei muss das Historische brandneu und blitzblank sein. Was gewünscht wird, ist die Illusion von Geschichte. Es soll historisch sein, aber keine Last der Vergangenheit tragen oder irgendwelche historische Patina«, sagt Tanyeli dem Blog Tarlabasi Istanbul.

(c) Janek Stroisch
(c) Janek Stroisch

Im Verkaufsbüro gegenüber der Baustelle vermittelt ein Architekturmodell mit freundlich leuchtenden Fenstern potentiellen Investoren einen Eindruck des künftigen Viertels: Enge Straßen, gesäumt von schmalen Häusern, wenige Stockwerke hoch. Viele Simse, Erker und Balkone, auf den Dächern Penthäuser. Irgendwie noch historisch, aber nicht mehr alt.

Der Bezirksverwaltung von Beyoglu betont, dass der Komplettabriss der Bewahrung des Viertels dient. Nicht nur werde Tarlabasi sicherer, sauberer und lebenswerter, verspricht sie auf ihrer Internetseite, sondern auch das Stadtbild werde erhalten und der »kulturelle Reichtum« bewahrt. »Das Äußere der Gebäude wird dem Original treu bleiben.«

»Was in Tarlabasi unter dem Schlagwort Konservierung getan wird, hat nichts mit echter Konservierung zu tun«, sagt dagegen Tanyeli. »Sie planen, allein die Gestalt der alten Gebäude zu reproduzieren. Das einzige, was sie konservieren, ist die Breite der Straßen. Alles, was herauskommen wird, ist ein historisierendes Viertel.«

Talarbasi: Für das Volk, mit dem Volk

Stadterneuerung soll zum Nutzen der Allgemeinheit geschehen, doch am meisten profitieren Bauunternehmer aus dem Umfeld der regierenden AK-Partei.

»Die Beteiligung und Einbindung der Bewohner ist essentiell für den Erfolg der Konservierungsprogramme und sollte angestrebt werden.«

Aus der Charta des Internationalen Rates für Denkmalpflege (ICOMOS)

In Tarlabasi hat die Stadtverwaltung die Bewohner erst informiert, als bereits alles entschieden war – und angestrebt wurde lediglich ihr Auszug. Bedroht mit Enteignung und zermürbt von langen Prozessen verkauften viele der Eigentümer schließlich weit unter Marktwert. Den verbliebenen Mietern erhöhte die Stadt die Mieten und kappte das Trinkwasser. Der Müll wurde nicht mehr abgeholt und Notrufe nicht mehr beantwortet, bis auch die Letzten auszogen.

(c) Janek Stroisch

Recep Tayyip Erdoğan hatte sich als Ministerpräsident erstmals 2005 für Tarlabasi 360 stark gemacht. Im Juni 2006 beschloss Erdoğans AKP-Mehrheit im Parlament dann das sogenannte Tarlabasi-Gesetz. Es befreite Stadterneuerungsprojekte wie in Tarlabasi von Steuern und Abgaben, was sie besonders lukrativ für Baufirmen macht. Im April 2007 erhielt die Baufirma GAP den Zuschlag, eine Firma der Calik Holding Gruppe, deren Chef Berat Albayrak war – Erdoğans Schwiegersohn.

Was in Tarlabasi passiere, nutze den Reichen und gehe zulasten der Armen, sagt der Stadtplaner Oktem Unsal. Sie würden verdrängt, ihre Wohnungsnot vergrößert und ihre Überlebensstrategien samt ihren sozialen Netzwerken untergraben. »Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung« nennt sich die AKP, doch als gerecht wird die Entwicklung in Tarlabasi wohl kaum in Erinnerung bleiben.

Süleimaniye: Tiefgaragen für die Mittelklasse

Nichts Schlimmeres kann einem Archäologen in einer antiken Stadtlandschaft passieren als eine Tiefgarage. Doch das ist der Preis der Gentrifizierung.

Auf einem Hügel über dem Goldenen Horn erhebt sich die Süleimaniye Camii, die größte und prächtigste Moschee Istanbuls. Gepflegte Rasenflächen und Blumenrabatten zieren die Anlage und in der Ferne schimmert blau der Bosporus. Doch verlässt man die Terrasse und wendet sich die Straße hinab nach links, findet man sich in einer Ruinenlandschaft: halb abgerissene Häuser ohne Türen, Fenster und Dach, Brachflächen voller Trümmerhaufen, dazwischen hohe Zäune.

Straßenszene in Istanbul (c) Janek Stroisch

Bis in die 1950er Jahre war Süleimaniye ein bürgerliches Viertel, erzählt der Stadthistoriker Orhan Esen, während er an Hauswracks voller Müll vorbeigeht. Doch über die Jahre verarmte das Viertel und verfiel. Als fatal erwies sich das Denkmalschutzgesetz von 1985, das es Hauseigentümern verbot, auch nur die Regenrinnen zu reparieren, ohne vorher eine Genehmigung einzuholen. Da ließen viele die Renovierung lieber ganz bleiben.

Schließlich plante die Stadtverwaltung einen radikalen Neuanfang für den Bereich unterhalb der Moschee: Abriss, Neubau, Tiefgarage. Denn ohne Tiefgaragen gibt es in Istanbul keine Gentrifizierung, sagt Esen. Ihretwegen werden ganze Viertel abgerissen, statt die bestehenden Häuser zu sanieren. In Süleimaniye, genau wie in Sulukule und Tarlabasi.

»Das Projekt wurde für Angehörige der Mittelklasse entworfen, die Autos besitzen und die aus Sicherheitsgründen lieber ihren Fuß nicht in die umliegenden Viertel setzen wollen«, sagte die Professorin für Stadtplanung Tolga Islam dem Magazin Al-Monitor. Alle Häuser seien so angelegt, dass die Bewohner aus dem Auto direkt in die Wohnung gehen können.

Süleimaniye ist eines der ältesten Viertel Istanbuls. Neben Moscheen, Bibliotheken und Brunnen aus der osmanischen Epoche finden sich hier noch viele Überreste aus byzantinischer und römischer Zeit. Noch heute sieht man antike Mauern. Dieses Gelände für eine Tiefgarage umgraben? Ein Albtraum für jeden Archäologen!

In Süleimaniye scheiterte das Projekt am Ende eben an dieser rücksichtslosen Planung: Ein Gericht stoppte den Bau der Garage. Nun liegt das Projekt seit Jahren auf Eis. Geblieben sind Hausgerippe, Bauzäune und Brachflächen, auf denen Müllsammler ihre Ballen aus Pappe und Plastik stapeln.

(c) Janek Stroisch

Sulukule: Irgendwas mit Holz

Holzhäuser mit Erker gelten als Inbegriff der alten Istanbuler Wohnarchitektur, dabei sind die meisten dieser Häuser ein Industrieprodukt des 19. Jahrhunderts.

Ein Besuch in Sulukule, wo die staatliche Wohnungsbaugesellschaft 640 Wohnhäuser im ehemaligen Romaviertel an der byzantinischen Stadtmauer errichtet hat: Die Holzfassaden sind hellbraun, die Bretter an den Erkern etwas dunkler und bereits leicht verwittert. Die eigentlichen Mauern sind aus Beton und Zementsteinen, das Holz ist nur vorgesetzt, um einen Anschein von Authentizität zu vermitteln.

Vorbild für die Neubauten war das osmanische Holzhaus, das als Inbegriff für die alte Istanbuler Wohnarchitektur gilt, wie der Experte für Istanbuler Stadtgeschichte, Orhan Esen, bei einem Rundgang erklärt. Nur gibt es dieses Holzhaus kaum noch in Istanbul. Was heute als osmanisches Holzhaus gilt, ist in Wahrheit ein Industrieprodukt des 19. Jahrhunderts.

Statt nach individuellem Plan von lokalen Zimmerleuten gebaut, wurde es von Ingenieuren am Reißbrett entworfen und aus vorgefertigten Bauteilen errichtet. So finden sich heute dieselben Modelle in Istanbul wie in San Francisco. Was in Sulukule errichtet wurde, ist mithin eine falsche Kopie eines Produkts der frühen Globalisierung.

Sulukule: Syrer im Romaviertel

Gegen erbitterten Widerstand wurde das alte Romaviertel Sulukule abgerissen, doch statt der türkischen Mittelschicht kamen syrische Flüchtlinge.

Jahrelange Proteste, Kampagne und Klagen – kein Stadterneuerungsprojekt in Istanbul hat größeren Widerstand provoziert als der Abriss von Sulukule. eines der ältesten Romaviertel der Welt. Bis in die 90er Jahre war es ein Hotspot des Istanbuler Nachtlebens. Viele Musiker wohnten hier, jede Nacht war wie der Karneval von Rio, heißt es: Es wurde getafelt, gejohlt und getrunken, während Bauchtänzerinnen zur Musik der Kapellen die Hüften schwenkten.

Sulukule war ein Ort des Vergnügens, ein Ort der Armut. Kein Idyll, doch war es Heimat für mehr als 3000 Roma. Heute liegen die sauber gepflasterten Straßen verlassen dar, kaum Menschen, kaum Cafés, nicht einmal Geschäfte gibt es. Die Stadtverwaltung hat das Viertel totsaniert, und bisher sieht es nicht so aus, als würde es wieder zum Leben erwachen.

(c) Janek Stroisch

Die Proteste sind längst verebbt, doch scheint sich die Wohnsiedlung noch immer gegen eine feindlich gesinnte Außenwelt verteidigen zu wollen. Überall gibt es stacheldrahtbewehrte Metallzäune, manche Straßen sind komplett abgesperrt, und am Eingang wacht der Sicherheitsdienst. Obwohl vom Staat errichtet, wirkt die Siedlung wie eine gated community.

Die ehemaligen Einwohner des Viertels erhielten die Option, sich mit der Entschädigung für ihren alten Häuser in zwei staatliche Wohnsiedlungen am Rande Istanbuls einzukaufen, doch vielen fehlte dafür das Geld. Viele vermissten in den neuen Siedlungen auch das alte nachbarschaftliche Leben und kehrten nach einer Weile in die Nähe von Sulukule zurück.

Vier Jahre nach der Fertigstellung ist Sulukule erneut ein Problemviertel, doch bereiten der Stadtverwaltung heute nicht Kriminalität oder Armut Kopfzerbrechen, sondern der anhaltende Leerstand. Scheut die türkische Mittelklasse das Viertel nach all den Kontroversen, die selbst im Ausland für Schlagzeilen sorgten?

Es wirkt wie ein Treppenwitz der staatlichen Gentrifizierung in Istanbul: Gegen erbitterten Widerstand wurden die Roma vertreiben, um Platz für Türken zu schaffen. Doch nun wollen die dort gar nicht wohnen.

Statt der Türken sind nun viele Syrer nach Sulukule gezogen. Die Vorgeschichte des Viertels ist ihnen egal, sie sind froh, mit dem Geld, das sie aus dem Krieg retten konnten, eine relativ günstige Wohnung zu kaufen. Und möglicherweise schätzen sie – traumatisiert vom Kriegslärm ihrer implodierenden Heimat – sogar die neue Ruhe von Sulukule.

Tarlabasi: Kurden mit kurzen Hosen

Die Bewohner der Zukunft tragen Shorts, Krawatte und leichte Kleider. Stadterneuerung heißt in Istanbul auch, dass die Einwohner erneuert werden.

Am Bauzaun neben der Einfahrt zur Baugrube von Tarlabasi 360 riecht es nach Urin. Unter den Gerüsten, die die letzten erhaltenen Fassaden stützen, warten Menschen auf den Bus, ein Händler bietet Socken an, auf niedrigen Hockern kann man Tee trinken. Vor dem Barbier Mehmet an der Ecke warten magere Prostituierte. Der Sicherheitsmann an der Einfahrt zur Baugrube will nicht, dass Fotos gemacht werden. Auch nicht von dem Plakat an dem Rolltor, das in Lebensgröße das künftige Straßenleben zeigt:

Junge Frauen mit wehenden blonden Haaren sitzen da an Caféhaustischen, eine Frau mit Einkaufstüten schlendert die Straße entlang. Auch das Werbeprospekt von Tarlabasi 360 lässt wenig Zweifel, für wen das neue Wohngebiet gedacht ist: Es zeigt blonde Frauen mit Kinderwagen, Anzugträger beim Gespräch auf der Dachterrasse, Männer mit Krawatte in der Fußgängerzone und viele junge Typen mit kurzen Hosen. Die Kurden von Tarlabasi tragen aber keine kurzen Hosen, und blonde Haare haben hier nur die Nutten.

Das Leben der Anderen

Die Projektentwickler versprechen, die Interessen der Bewohner zu achten – nur können die mit Penthäusern nicht viel anfangen.

»Das farbige und glitzernde Leben, die herzlichen nachbarlichen Beziehungen, der Handel, die Kunst und das soziale Leben werden mit Tarlabasi 360 wieder zum Leben erweckt, während die Architektur und die kulturellen Werte bewahrt werden.«

Aus einem Prospekt für das Bauprojekt Tarlabasi 360

Ob in Tarlabasi, Süleimaniye oder Sulukule: Stets versprachen die Stadtplaner, die gewachsenen Strukturen zu bewahren und die Interessen der Bewohner einzubeziehen. Alle drei Viertel waren jahrhundertealte Stadtteile mit wechselhafter Geschichte, in denen sich verschiedene Volks- und Religionsgruppen mischten und sich die Armen und Geächteten sammelten: Romamusiker in Sulukule, Arbeiter in Süleimaniye, kurdische Migranten, afrikanische Flüchtlinge, Prostituierte und Transvestiten in Tarlabasi.

(c) Janek Stroich

Das Viertel gehört zu Beyoglu, einst das Viertel der europäischen Kaufleute, der Armenier, Griechen und Juden. Doch schon immer war der Hang von der prächtigen Istiklal-Straße hinab zum Dolapdere Tal die Rückseite des Viertels, da ihm der Blick zum Bosporus fehlte. Je tiefer die Lage, so einfacher wurden die Gebäude. Ganz unten am Talboden lag die Industrie.

Nach der Vertreibung der Armenier und Griechen und dem Fortzug der Italiener und anderen Europäer in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ging es mit Tarlabasi und dem Rest von Beyoglu bergab. Ärmere Migranten vom Land übernahmen die verlassenen Häuser, in den 80er Jahren kamen viele Kurden hinzu, die vor dem Konflikt mit der PKK geflüchtet waren.

Der Bau des Tarlabasi Bulevari 1986 gab dem Viertel den Rest. Sechsspurig zieht er sich in einer breiten Schneise vom Goldenen Horn hinauf und schneidet Tarlabasi von der zentralen Istiklal-Straße ab. Bis heute gilt das Viertel als Ort der Prostituierten, Kriminellen und Drogensüchtigen. Eingesessene Istanbuler würden hier niemals hinziehen.

Zwischen den Häusern spannen sich Wäscheleinen, auf den Straßen liegt Müll, dazwischen spielen Kinder. In den Eingängen sitzen Frauen mit bunten Kopftüchern und rauchen. In Kellerwerkstätten werden alte Elektrogeräte ausgeschlachtet. Da vielen Waschmaschine und Dusche fehlt, kann man in Waschsalons nicht nur Wäsche waschen, sondern auch sich selbst.

Viele Häuser verfallen, an den verwitterten Mauern stehen Parolen der PKK. Plakate marxistischer Parteien rufen zum Klassenkampf auf, Zettel werben für Schlafplätze: 20 Lira pro Tag, 300 Lira für einen Monat. An den Ecken warten junge Prostituierte. Aus den Penthäusern von Tarlabasi 360 wird sich ein grandioser Blick auf diese Nachbarschaft bieten.


Text: Ulrich von Schwerin, Fotos: Janek Stroisch
Der Text wurde erstmals veröffentlicht im Zucker Magazin (www.zucker-magazin.de)