fragmente zum chor

fragmente zum chor nähert sich aus mehreren Richtungen dem Chorischen in der Gegenwart. Der Text eröffnet einen Dialog zwischen der Theaterwissenschaftlerin Nicole Haitzinger und der Künstlerin Claudia Bosse: Thesenhafte Fragen treffen auf assoziative Antworten. Das so entstandene dialogische Textgewebe fordert ein lautes Lesen heraus –  quasi ein „zu sich selbst sprechen in fremden Stimmen“ (Lily Tonger-Erk).

claudia bosse: die perser

FIGUR FIGURATION RAUM

Der Chor unterbricht die Sicht auf den Protagonisten/die Protagonistin?

der chor hat im griechischen theater die sicht unterbrochen, oder vielleicht eher komplettiert. der protagonist, der als einer zumindest zwei figuren seine stimme lieh, war teil des gesellschaftlichen oder konfrontiert mit ihm; dies ergab ein sprachlich kompositorisches gefüge, das über sprechakte, gesang und bewegung seine identität in diesem spiel behauptete und zugleich die verfremdung der ausführenden erfuhr. die die tragödie praktizierenden bürger der stadt athen wurden durch das ergreifen von sprechfiguren oder sprechpositionen zu anderen. das scheint heute selbstverständlich, doch ich möchte diese verschiebung in ihrem vorgang betonen. die griechen werden perser, die männer  werden frauen. die ‚freien‘ bürger werden sklaven. allein diese annahmen sind unterbrechungen einer identität, die nicht nur mit sicht zu erfassen sind, sondern mit dem ergreifen von sprechpositionen, einer haltung gegenüber der sich über sprache entwickelnden theatralen rituellen behauptung.

es fällt mir schwer, den chor zentralperspektivisch zu begreifen. wenn man sich griechische theater ansieht, sind diese quasi eine umkehrung unserer theater mit ihren erhöhten bühnen, denn in ihnen blickt man hinunter in ein loch; auf einen platz, der von zweidrittel eines kreises einsehbar ist, und der tänzerisch, körperlich und sprachlich eingenommen wird; – auf dem sich eine formation von 12 oder 15 gegenüber 10000 oder mehr choreografisch verschiebt. auf diesem platz lässt die gestaltung der stimme/n unterschiedliche sprechfiguren entstehen, ausgeführt von zum beispiel dem gleichen sprecher/der gleichen sprecherin. das heißt vielleicht, dass das akustische element in der antiken tragödie entscheidender für die vorstellungen war als das visuelle. vielleicht war die vorherrschaft des sehens gegenüber dem hören anders geartet als heute. und das hören von sprache und klang hat sehen erzeugt über rhythmus, sprachliche bilder und die chronologie von worten, die einen vorgang entstehen lassen wie einen krieg oder einen konflikt um rechtsanschauungen oder herrschaft.

Der Chor als Auslotung eines räumlichen Systems?

der chor ist eine versammlung. er nimmt raum ein. er versperrt die sicht auf andere, er ist ein gegenüber. er ist viele. 

ich habe meist mit räumlich mobilen und choreografierten chören gearbeitet, die den zuschauer einverleiben, ihn umschließen, ihn teil werden lassen, doch ihn gleichzeitig zum „anderen“ werden lassen: dem gegenüber dieses chores, das weggedrängt wird durch einen gezielten gang in einem geteilten raum. oder aber indem sich der chor von der stehenden menge der zuschauenden separiert, zum beispiel durch langsames legen auf den boden, oder umzingeln der zuschauenden an den rändern des raumes, oder aber durch schnelles rhythmisiertes durchschreiten der figuration des stehenden publikums. diese chöre, von denen ich spreche, sind räumlich. choreografische körper, die in einem doppelten oder dreifachen netz den raum durchziehen, ihn zeichnen, ihn organisieren. durch dieses choreografische verfahren wird der chor zum raum, umspannt den raum der zuschauer, schließt ihn ein, trennt ihn ab. durchläuft ihn, bildet formationen, integriert ihn etcetera. der zuschauende wird teil dieser choreografien von trennung und einverleibung, er ist im weg oder einfach ein betrachtbarer körper in den sich verschiebenden räumlichen konstellationen der anderen körper, die einem muster oder einer formation folgen. 

Rhythmisch versetzte Räume?

der chor bewegt sich und spricht. die bewegung unterstützt oder trennt die gesprochenen verse, in den rekonstruktionen ergeben sich verschiedene anhaltspunkte, manche widersprechen sich. 

wenn man dem aufbau der antiken tragödie folgt oder sich zum beispiel aischylos ansieht, ist interessant, dass die strophe und gegenstrophe sich melodisch gleichen, jedoch in ihren inhalten und aussagen häufig entgegengesetzte positionen oder perspektiven einnehmen. die melodie oder der rhythmus strukturiert das erscheinen der sprache und macht strophe und gegenstrophe formal aufeinander beziehbar, wiewohl sich die strophe und antistrophe inhaltlich voneinander abstoßen. das ist, finde ich, ein extrem interessantes verfahren, nämlich dass ein ähnlicher rhythmus die differenz erst umso stärker hervortreten lässt und so etwas wie einen bezugsrahmen herstellt.

Der Chor als Figuration von Fremdheit?

der chor ist fremd, weil uns eine ausgerichtete ansammlung fremd geworden ist, sie ist stigmatisiert, verdächtig. wobei sich dies seit 2011 mit einem wiedergewonnenen politischen glauben und der mobilisierung auf straßen und plätzen in europa und weltweit verändert hat. die ereignisse und protestbewegungen für andere politische konzepte, regierungsformen und ökonomien in tunesien, ägypten, griechenland, israel, usa, ukraine, spanien , türkei etcetera haben durch ihre körperlich erfahrbare politische kraft den chor verändert. diese ereignisse  und erfahrungen politischer mobilisierung und massenhafter einnahme von öffentlichen orten und plätzen zum zwecke politischer protestbewegungen verändern den chor radikal. sie verändern, wie man ihn in der gegenwart wahrnimmt beziehungsweise was er als gegenbild einer gesellschaft oder repräsentation vertritt; oder das, was er davor durch bloße koordination vieler zum vergleich aufrief mit historisch zutiefst problematischen zeiten, zum beispiel mit deutscher geschichte, insbesondere den nazifaschismus und die damit verbundenen massenaufmärsche zum zwecke der demonstration politischer identität. vielleicht wäre es in diesem zusammenhang interessant, sich die massenchöre von rudolf von laban in erinnerung zu rufen. viele arbeiten einar schleefs mitte der neunziger jahre waren mit dem faschismusvorwurf behaftet, initiiert durch meist konservative kräfte der theaterszene mit einer bestimmten ästhetikvorstellung.

in vielen antiken tragödien sind die chöre die anderen, die sklaven, die ältesten des den griechen feindlich deklarierten nachbarn, die perser oder die fliehenden töchter aus ägypten oder die töchter des weltumspannenden okeanos. also fremde, andere.

VERFERTIGUNG

Das notwendige Maß an Dissonanz des Chores im Modus der Darstellung?

es ist nicht die dissonanz als dissonanz das wesentliche, sondern das verstehen, dass im versuch der erzeugung von harmonie immer dissonanz entsteht, diese aber wiederum die fundamentale bedingung des chores im suchen nach einer harmonie ist.

Der Sprechchor als notierter Gedanke?

ich glaube, die meisten sprechchöre folgen komplexen sprechkonstruktionen, die jenseits des im moment erfassbaren gedankens liegen. komplexe sprachgefüge, die meist eine vorherige strukturierung des gesagten oder zu sagenden benötigen. eine vorgelagerte zeit des verstehens, des absetzens, des beziehens, des formulierens etcetera, bis dann diese notierte sprache als wieder aktivierte gegenwart veröffentlicht werden kann. als gebündeltes sprechen einiger, die mit ihren gedanken die fremden gedanken und den notierten atem (des autors) auf ihren körper treffen lassen und diesen vorgang gemeinsam richten und veröffentlichen gegen andere.

POLITIK

Der zugleich sich selbst organisierende und der organisierte Chor?

der chor muss sich selbst organisieren im organisiert-sein nach bestimmten kriterien oder nach einer partitur. die aushandlung der eigenen setzung und des eigenen denkens im verhältnis ist im moment der formulierung selbst immer teil der praxis. es ist genau der unterschied zwischen der addition von einzelnen oder eben einem chorischen gefüge, das die bedingungen zueinander in jedem moment wieder verhandelt. der einzelne im chor wechselt in seiner aufmerksamkeit ständig zwischen sich selbst und den anderen. das atmen ist die grundvoraussetzung zur koordination des chores im denken, im jeweils anderen körper und in der erzeugung der sprache.

Der Chor als sozial-ästhetische Praxis bestimmt durch politische Ideologien der Zeit?

die konzepte von ein- und ausschluss, von akzeptanz und gemeinsamkeit und diesem bedingungslosen gemeinsamen einsamen sind fortwährend teil der chorischen produktion und existieren in jedem moment seiner herstellung. der chor ist immer in gefahr und ständig bedroht vom zerfall, wenn er nicht nur formal agiert. der rein formal agierende chor ist kein chor, sondern ein mehrköpfiges ungeheuer.

 

AFFEKT

Das Affektpotential des Chors? Der Affekt als Aufspaltung von Energie?

ich denke, der chor erzeugt energie; energie, die aus einer fokussierung entsteht und zugleich besteht der konflikt darin, diese fokussierung mit vielen auszuhalten und auszutragen. der chor ist immer politisch und ästhetisch zugleich. die dynamik zwischen diesen beiden feldern erzeugt sein potential. nichts sonst im theater kann diese energie erzeugen. kann affekt energie aufspalten? oder ist es nicht eher ein wesentlicher bestandteil des chores, der affekt in der fast unmöglichen koordination, der diese energie erst entstehen lässt?

der chor ist ein zutiefst schizophrenes und affektgeladenes gefüge. kontrolle und hingabe. eine position einnehmen in der unüberschaubarkeit eines chorisches gefüges. vertrauen und gerichtete energie. techniken und affekte in der unüberbrückbarkeit von differenzen, die tief im inneren berühren; das gesellschaftliche/politische in einem selbst in dieser manchmal unerträglichen zurückgeworfenheit, in der gegenseitigen bedingtheit, teil eines ganzen oder besser eines multiplen größeren zu sein. dieses multiple und mehrperspektivische gefüge löst affekte aus; in mir als einzelnem/r in einer diffusen menge von anderen, diesem gegenüber.

Die überbordend sinnliche Ansprache und Vielstimmigkeit des Chors?

was mir zur überbordenden sinnlichen ansprache und vielstimmigheit des chors einfällt, sind die tränen einiger zuschauenden. der schock in ihren körpern am ende von der „die perser“ aufführung beispielsweise. es wurden partituren mit der notation ausgegeben oder kamen aus dem bühnenhimmel (schnürboden) für diesen letzten dialog zwischen chor und xerxes. xerxes wird als einzelner vom chor, den anderen – in genf waren dies 180 personen oder in braunschweig 340 – konfrontiert mit seinem handeln und seiner verantwortung. die notation, die ich erstellt habe, sieht starke höhenwechsel in der sprache und übergänge von schreien und sprechen vor. die zuschauenden waren eingeladen, die partituren mitzulesen, mitzusprechen und teil dieser verhandlung zu werden, gegenüber dem einen, der diesen krieg verantwortet hat.  

als alle sich beteiligten, hat es eine unheimliche gewalt erzeugt; eine kraft, die unheimlich wird, und erinnert an faschistische kapitel unserer geschichte oder vielleicht auch nur die vermutung darüber, sprich über die unheimlichkeit einer kollektiven und gerichteten kraft. 

und wer sich nicht beteiligte an der ansprache, stand trotzdem in der sprache, ja im atem der anderen. eine sprache, die ebenso etwas von vor 2500 jahren verhandelt wie auch die gegenwart. eine energie, eine sinnlichkeit, eine bedrohung, einen konflikt, eine gewalt und deren aufsplittung in viele einzelne, die teil dieses gefüges sind. und die erinnerung einer/eines jeden trifft und aufruft. die sprache und das atmen, das durch die körper geht, sie berührt. nicht nur ein erkennendes erfassen, sondern ein von schallwellen berührt und bewegt sein. rhythmisch berührt sein.

und zugleich ist es die gesellschaftliche realität derer, die man sieht, mit denen man steht und atmet. eine verbindung zwischen einer historischen und gegenwärtigen fremde im moment der historischen und gegenwärtigen maximalen nähe. Der/die einzelne in den vielen, die vielen gegenüber dem/der einzelnen, die vielen gegenüber den anderen vielen, oder in ihnen. eine choreografie des sozialen in einer ästhetischen form, einer ästhetischen form in großer rohheit; und diese rohheit verstanden als schönheit, in der sich die gegenwart der einzelnen wieder einschreibt und zugleich diese andere form des aufeinandertreffens einzuhalten versucht.

Das Verhältnis von Atmen und Denken?

das erfassen eines konstruierten chortextes ist in der annäherung immer ein spiel von atem und denken. das heißt, die notation des textes gibt einen atem des textes vor, der häufig in konflikt mit dem atem des/der einzelnen steht, der/die ihn spricht und durch seinen körper und seine/ihre gedanken wandern lässt. ihm begegnet, der aber dennoch der atem eines notierten chorgedankens ist. das erfassen von chortexten ist nur über das ausgesprochene wort, das heißt, das zugleich gedachte, im mund geformte und geatmete wort und die folge von wörtern möglich. das notierte denken, eine choreografie des denkens, das sprache wird. die komplikation von sprüngen und ungewöhnlichkeiten. oder vielleicht genauer ist der sprechchor eine kollision von atem und eine kollision von denken, es kollidiert der autor/in, die notation mit dem sprecher/der sprecherin und den anderen, die sprechen.

die notation trifft auf den/die einzelne/n, trifft auf die anderen einzelnen und erzeugt spannung zwischen dem text, dem/der einzelnen und den anderen im versuch gemeinsam im chor zu denken, zu atmen, ja zu sprechen.


Der hier veröffentlichte Beitrag ist eine gekürzte Fassung des Originaltextes „fragmente zum chor“ von Claudia Bosse und Nicole Haitzinger erschienen im Band „Chor-Figuren. Transdisziplinäre Beiträge“, herausgegeben von Julia Bodenburg, Katharina Grabbe und Nicole Haitzinger. Der Band ist 2016 im Rombach Verlag Freiburg in der Reihe Paradeigmata erschienen.
Foto: claudia bosse: die perser (c) Christian Bort