Das Ruhrgebiet spricht

Wenn jemand weiß, wie das Ruhrgebiet klingt, dann Richard Ortmann. Er hat wie kein Zweiter den Strukturwandel in der Region auf akustischer Ebene begleitet.

Phöniw West Dortmund

"Das Ruhrgebiet hatte mal einen unverwechselbaren Klang, als es die vielen Zechen und Stahlwerke noch gab. Sie waren bis in die Stadt und Stadtteile zu hören - immer, auch in der Nacht. Der Schwerlastverkehr, die Eisenbahn fuhr immer und brachte Kohle von A nach B.  Und das Roheisen war per Bahn auch immer unterwegs."

Das charakteristische Quietschen der Dortmunder Straßenbahn, als sie noch oberirdisch und mit schneller Geschwindigkeit um die Kurve der Kampstraße fuhr, ist eines der Lieblingsgeräusche Ortmanns. Aber auch die Proteste vor dem Nokia-Werk, das Ächzen und Krachen der Stahlwerke, Zechen und kleineren Industriebetriebe - Richard Ortmann hat sie alle mit seinem Mikrofon eingesammelt. Als er Anfang Mai mit seinem Soundarchiv im Gepäck das FAVORITEN-Büro in der Neuen Evinger Mitte besucht, schwärmt er vom nahe gelegenen historischen Hammerkopfturm, von den Geräuschen der Werkzeuge und Maschinen, die auch im Norden Dortmunds bis vor 50 Jahren noch ratterten, hämmerten und zischten.

Angefangen hat alles in den Achtzigern, als Ortmann in der Dortmunder Nordstadt für den WDR Geräusche einfangen sollte. Der Betrieb, den er zuvor inspiziert hatte, war schon in der nächsten Woche nicht mehr da. Dabei war der Strukturwandel und das Zechensterben schon in seiner Kindheit ein Thema in der Familie, zuhause in Herne, keine 500 Meter entfernt von einem Steinkohlebergwerk. 1983 machte sich Richard Ortmann dann bewusst: wenn er diese typischen Geräusche und Töne nicht sammeln würde, gingen sie für die Nachwelt für immer verloren.

 


6000 Minuten Material

Im Dortmunder Stadtteil Neuasseln verwahrt Ortmann über 6.000 Minuten Rohmaterial in seinem Tonstudio, mal längere Mitschnitte, mal nur ganz kurze Sequenzen. Er arbeitet selbst als Hörspielautor, Komponist und Dokumentarist. Ob für Theaterproduktionen, Fernsehdokumentationen oder Musik: sein Ton-, Klang- und Schall-Archiv ist mehr als gefragt.

Dabei ist Ortmann selbst Musiker. Parallel zu seiner Tätigkeit als Geräuschesammler gründete er in den frühen Achtzigern die Brassband „schwarz/rot Atemgold 09“, die sich scherzhaft als auch „Dorfkapelle des Ruhrgebiets“ versteht. Vorbehaltslos sampeln sie Töne und Klänge aus der ganzen Welt mit gesammelten Sounds des Ruhrgebiets. Seitdem spielten Ortmann und seine Bandkollegen Noise-Konzerte in ungenutzten Industrieanlagen, traten als dadaistisches Trio in der U-Bahn auf oder kollaborierten mit anderen Künstler*innen.

2002 lud die Ruhrtriennale die Kapelle zum Konzert auf die Zeche Zweckel, 2016 steuerte Ortmann einen der Soundtracks für die Arbeit "Truck Tracks Ruhr" bei, die die Berliner Theatergruppe Rimini Protokoll gemeinsam mit Urbane Künste Ruhr realisierte. Damals begab sich das Publikum in einen LKW mit seitlicher Fensterfront, der zum fahrbaren Zuschauer*innenraum umfunktioniert wurde. Die vorbeiziehende Szenerie war das Roadmovie, Richard Ortmanns gesampelte Geräusche, die hier im Hintergrund zu hören sind, waren der Soundtrack Dortmunds - mit Blick auf den Hafen.

Ortmann ist dem Ruhrpott treu geblieben. Mit 26 Jahren hatte er sich gesagt: das Ruhrgebiet hat 2,5 Millionen Einwohner, das wird mich ja wohl als Musiker ernähren. Was soll ich da in Köln,  London oder New York?  Hier liegen die Themen quasi auf der Strasse.
Und auch weil er befürchtet, dass es sich hier bald wie überall anhört, nach Autobahnlärm und Flugzeugen, überlegt Richard Ortmann nicht lange, welchen Ort er gern noch einmal zum Klingen bringen würde: den Landschaftspark Duisburg Nord und zwar so, wie es damals war: "Man würde sich wundern" schwärmt er.