Alle sieben Jahre verändern sich Haut und Haare.
Ich schaue mich an. Meiner Großmutter immer ähnlicher.
Ein Altersfleck. Dies ist nicht mein Fleck. Dieses Gesicht ist nicht mehr meines.
Damals bin ich viel gereist.
Rucksack. Bahn. Per Anhalter.
Und dann. Portugal.
Ausnehmen von Oktopussen. Am Mittag die meisten Fischschwärme. Kartoffelpüree gegen Durchfall. Er fragt mich ob ich für immer bleiben will.
Am nächsten Morgen reise ich ab.
Bulgarische Dortmunder Blocks
Und dann. Usbekistan.
Bunte Stoffläden entlang der Seidenstraße, Tajine kochen, lernen Bier zu mögen, die usbekischen Sprichwörter. Was willste machen? Na eben. Genau. Wie sagt man? Liebe geht durch den Magen. Er studiert die alten Reiseführer aber auch so eindringlich, als ginge es dabei um sein eigenes Leben..... Und plötzlich rückt der Visums-Termin näher. Usbekische Botschaft. In einem Monat soll es losgehen. Neue Handynummer. Neuer E-Mailanbieter. Es gibt eben keine Rosen ohne Stacheln.
Am nächsten Morgen reise ich ab.
Und dann. Afrika.
Charlie pflegt mich. Er bringt mir Tee aus Wunderwurzeln. Und Bananenmus. Die Nächte auf den Feldern, frisch gemahlener Kaffee.....
Am nächsten Morgen reise ich ab.
Und dann. Marokko.
Also, im August nach Marokko. In Fez. In Casablanca. In der Stadt. In einem Bergdorf. Nach Marrakesch. Leicht gebogene Nasen. Verlorengegangenes Wiedergefundenes. Irgendetwas an ihm lässt mich nicht los. „Beautiful, beautiful rich girl.“ Wow! Sein Englisch. Mein Französisch. 1 Monat in Berlin, dann 2 Monate in Marrakesch, dann 3 Monate in Berlin, dann 4 Monate in Essaouira, dann 5 Monate in Berlin, dann– ja, und dann- dann hatte ich keine Kraft mehr…
Am nächsten Morgen reise ich ab.
Sam war 12 Jahre älter als ich. Deutsch- Iraner. Er sagt, der Nachteil seines Fischerdorfes seien die Gewissensbisse. Völliges Aussteigen sei deshalb nicht möglich. Das nächste Mal? Auf`s Land. Nur mit ein paar Koffern. Ein Selbstversorgerhof. Mit Internet. Und Leinwand und Papier und Fotoapparat und vielen Schafen. Mit Burka beschränkt sich die Erotik auf die Augenpartie.
Am nächsten Morgen... am nächsten Morgen hatte ich Sam dem Deutsch-Iraner zum Abschied eine falsche Adresse gegeben.
Und dann. Ich bin aus Minsk.
Weißrussland. Woher genau? Aus Vitebsk. Jetzt direkt im Zentrum von Minsk. Viel herumgefahren. Meine Eltern? Meine Mutter lebt in Russland. Mein einer Großvater denkt nicht sehr offen. Aber er ist Wissenschaftler.
Meine Eltern: Beide aus Minsk. Geboren. Aufgewachsen. Außerdem: Ich verlor meinen Reisepass.
Woher genau? Wer genau? Könntest du ich sein?
Moment mal! Das ist Super! Dein Supertanzstil! Dein Super Phänotyp! Das ist Super! Das ist besonders! Das sind Super blonde Haare! Das ist ein Super Gesicht! Das ist wie Super aus dem Osten!
Belarus? Nein. Drei super Sätze auf Russisch! Das reicht vollkommen!
Und dann. Alle Jahre wieder.
Auch Super. Schickliche Schürzschranken. Schattige Schlupfwinkel. Schlüpfrige Schlutzkrapfen. Schläfrige Schluckspechte. Alle Jahre wieder.... Schlotternde Schockstarre ….kommt das Christuskind.
Und dann. Berlin hat mich nervös gemacht.
Ganz faserig fühle ich mich. Also nichts wie weg. „Wie weit darf der Zug fahren?“ Dreckige Fingernagel pieksen meine Jacke. Sinnloses Strampeln. Luft Schnappen. Ständig und immer wieder. „Ihre Fahrscheine bitte.“ Zuhause im Zug. Keine andere Gesellschaft. Richtige Angst am falschen Ort. „Kennen sie eine Stadt in der noch Straßenbahnen fahren?“ So wird er sie niemals finden. Neue, fremde Gesichter. Er wird sie niemals finden.
Und plötzlich- und plötzlich ist er weg.
Und dann. Außenbetrachtung.
Einblicke von Außen.
Distanz.
Ich bin ein Paria!
Ich bin Cassandra!
Ungehört. Restfremd. Einsam.
Portugal. Usbekistan. Marokko. Litauen. Minsk. Berlin.
Mein Partner bleibt vor meinen Augen.
Ich kann nur zusehen. Zusehen und Warten.
Und dann plötzlich: Die Sensation! Ganz plötzlich! Die Wahrheit! Der Erfolg! Was für eine Bombe! Verstehenwollen! Liebe, ganz viel Liebe! Ihr seht es mir an: Soviel Liebe! Abgespeicherte Liebe! Dann plötzlich! Eine andere Person!
Und dann plötzlich. Nichtverstehen können.
Die andere Person wird mein Opfer.
Sie wird für immer Fremd bleiben.
Und dann. Kriege schützen Wälder.
Mögen die wilden Tiere draußen bleiben.
Keine Blicke, keine Schritte, keine Angst.
Und wenn die Welle kommt, wird sie alle im Fluss ertränken.
Der Tod ist nicht das letzte Wort.
Ich bin fast am Ende.
Einen letzten Zaun noch.
Die Hölle, das sind immer die anderen.
Groß- Klein- Dick- Dünn- Schwarz- Weiß- Gelb- Rot.
Primär- und Unfarben.
Das „Andere“ kommt immer en bloc.
Heißes Blut und Schnackseln / Schwulsein in weißen Masken.
Und dann kommt der Moment, wo wir uns bewusst machen, dass alles Leben aus dem Auto heraus kommt.
Afrikaner. Kasachen. Niederländer.
Ach ja- und es kommt auch noch der Moment, wo wir uns bewusst machen, dass das Auto sich auch noch öffnen kann und nicht nur das Leben, sondern auch noch ein richtiges Tier nach dem anderen, heraus kommen kann.
Eine Portion Pfefferpothast in der Brottasse, bitte! Alte Dortmunder Leibspeise.
Dänen. Araber. Libanesen. Türken. Moslems. Chinesen. Rumänen.
Wusstest du das Plowdiw die zweitgrößte Stadt Bulgariens ist? So viele Plattenbauten. Im Viertel Stolipinovo. „Dortmunder Blocks“ nennen sie Einwohner. Nach der Wende waren schon einmal Leiharbeiter aus Stolipinovo hier. Im Westen. Manche brachten neue Autos zurück. Oder Bargeld. Diese Legende lebt. Es kommen wieder Hunderte. Sinti und Roma. Mit hohen Schleuserschulden. Kassieren tun die Plowdiwer Clanchefs. Sie fahren Maybach. Wohnen in Palästen. Außerhalb von Plowdiw.
Zeit für den Moment, wo wir uns bewusst machen, ob wir Schweinchen im Kopf haben oder nicht.
Auszug aus Nordstadt Phantasien von Schorsch Kamerun, Katja Eichbaum, Off the Radar, PC Nackt. Eine Veranstaltung der Ruhrtriennale in Kooperation mit dem Favoriten Festival.
Foto: (c) deoci.com